Der Heilige Amandus

Von Bernhard Keuck


Erscheint einem die Römerstraße gewissermaßen als profanes Fundament  der Heronger Geschichte, so könnte man eine Legende als den geistig religiösen Überbau betrachten, genauer gesagt eine Heiligenlegende.


Der evangelische Theologe Walter Nigg sagt darüber: Die Legende ist kein Produkt der schnellflüchtigen Zeit, sie überschreitet bewusst die Grenzen des Natürlichen und gehört einer höheren Welt an. In eine Urform der Erzählung eingekleidet, vom Glauben getragen, ist sie auf das Heil der Seelen ausgerichtet und ihrem Wesen nach nur den warmen Sonnenstrahlen vergleichbar.”1 Der dementsprechend zu ihrem Seelenheil seine Strahlen über die Heronger gebreitet hat, ist der hl. Amandus. Sein Wirken fällt in die Phase der Christianisierung des Frankenreiches. Die eingangs wiedergegebene Fassung der Legende stammt von Jakobus a Voragine, dem bedeutendsten Legendensammler der Kirchengeschichte.2 Über ihn erfahren wir später mehr.


Neben der Theologie hat sich auch die Geschichtswissenschaft des Amandus angenommen. Ihr ist daran gelegen, den Nebel der Legende zu lichten und konkrete Aussagen zu machen, doch dafür bedarf sie der aussagefähigen Quellen. Da diese weder für die Übergangs-Epoche von der Spätantike zum Frühmittelalter allgemein noch für Amandus speziell in ausgiebigem Maße existieren, erscheint z. B. was E. Moreau, der Nestor der Kirchengeschichte Belgiens und Verfasser einer Monografie über Amandus, als gesichert gelten lässt wie ein wenig trittfester Pfad über schwankendem Grund. Für Moreau sind nur folgende Daten unstrittig:3 der 6. Feb. als Todestag ( das Jahr läßt er offen); der 17. April 674 oder 675 als Datum des Testaments (mit diesem Jahresdatum identifizieren einige Forscher sein Todesjahr); die Schenkung der villa Barisis durch Childerich II. an Amandus am 1.Aug. 663; die Gründungsurkunde eines Klosters in Barisis durch Amandus vom 15. Aug. 666; ein Brief des Papstes Martin I. an Amandus vom Okt. 649; die Beteiligung Amandus an der Gründung des Stiftes Nivelles 640( hierzuerwähnt Moreau ”relations”, Beziehungen zwischen Itte, der ersten Äbtissin von Nivelles und ihrer Tochter, der hl. Gertrud) und schließlich die Gründung des Klosters Elnon vor 639.


Der verständliche Wunsch, diese Daten zu einem historischen Bild zu fügen, liest sich nach dem ”Lexikon für Theologie und Kirche” folgendermaßen:4 Vom hl. Acharius, Bischof von Noyon und Tournai, einem Schüler des hl. Eustachius von Luxeuil, wurden Amandus und Audomar zur Heidenbekehrung in seinen Sprengel das heutige Belgien und Nordfrankreich berufen.


Amandus suchte besonders durch Gründung von Klöstern Mittelpunkte des christlichen Lebens zu schaffen, so Elnon vor 639 und Barisis 663. Bei der Gründung des Klosters in Nivelles 640 war er beteiligt. Er war Vertrauensmann des Papstes Martin I., von dem es einen werbenden Brief an Amandus gibt. Die Abstammung des Heiligen aus Aquitanien, seine Missionsreisen zu den Basken und Alpenslawen, seine Stellung als Diözesanbischof von Maastricht (647-649) sind wohl möglich, entbehren aber der sicheren historischen Grundlage. Gemäß seinem letzten Willen wurde Amandus in Elnon begraben.


In neuerer Zeit versuchte Jürgen Prinz im ”Lexikon des Mittelalters” folgende Einordnung:5 ”Amandus gehört in den Kreis jener vom Mönchtum in Luxeuil (Franche Comte) beeinflußten Missionare, die ihre Aufgabe nicht so sehr darin sahen, Heiden zu taufen, als vielmehr das vom Verfall bedrohte Christentum im fränkischen Reich in Verbindung mit Rom zu festigen”. Vom Papst ins fränkisch-friesische Grenzgebiet geschickt, sei sein wichtigstes Missionsgebiet zeitlebens Flandern geblieben. Insgesamt führen in Nordfrankreich und Belgien noch heute 111 Kirchen den hl. Amandus als Kirchenpatron, so dass dem Heiligen nicht von ungefähr die Bezeichnung ”Apostel der Belgier” verliehen wurde. Sein Hauptstützpunkt war unbestritten das von ihm vor 639 gegründete Kloster Elnon.


St.Amand: Pflegestätte der Künste und Buchkultur


Von König Dagobert hatte Amandus ein ”Gebiet zwischen den beiden Flüssen Scarpe und Elnon” erhalten, um dort die heilige Schrift zu verbreiten, wie es in der Gründungsurkunde des Klosters heißt.6 Er ließ zuerst zwei Kapellen bauen und erweiterte sie später zu einem Kloster, dem er die Benediktinerregel gab. Nach seinem Tod 679 oder 684 nahm das Kloster den Namen des Stifters an und nannte sich St.Amand.
Während der karolingischen Renaissance erlebte es eine bedeutende Blüte, die in der Phase der Normanneneinfälle eine zerstörerische Unterbrechung erfuhr.

 

881 wurde das Kloster von den Normannen überfallen und alle Mönche ermordet. Ein nicht genau bekannter Dichter verfasste in dieser unruhigen Zeit in Elnon/St.Amand das erste Gedicht in germanischer Sprache, das Ludwigslied, in dem die bedrückenden Normanneneinfälle thematisiert werden. Es preist den Sieg des fränkischen Königs Ludwig III über die Normannen bei Saucourt 881. Gelten das Ludwigslied und das im selben Codex enthaltene altfranzösische Eulalialied als einmalige literarische Schöpfungen, die auch in weltliche Wirklichkeit ausstrahlen, so hat das Kloster St.Amand auf dem Gebiet der Literaturvervielfältigung vor allem zu religiösen Zwecken eine ebenfalls herausragende Bedeutung erlangt. Da Bücher unentbehrliches Rüstzeug zur Verbreitung der christlichen Lehre waren, wurden sie immer wieder abgeschrieben, was vornehmlich in den Skriptorien der Klöster geschah. Das Kloster St.Amand barg eines der bedeutendsten Skriptorien und hatte eine reichhaltige Bibliothek. Es wurden Vergil Cicero, Cassiodor, Isidor, Beda, Alcuin und die Werke anderer Autoren kopiert7 und zum Teil mit bedeutenden Buchmalerein versehen.


Dass in dieser Pflegestätte von Geist und Kunst der eigene Stifter und ”Hausheilige” Amandus nicht klein geschrieben wurde, verwundert gewiss nicht. Die Amandusverehrung hatte über Jahrhunderte ihren Sitz in St.Amand und brachte schon im 8. Jahrhundert die von einem Anonymus verfasste erste Lebensbeschreibung hervor.8 Der Mönch Milo von St. Amand schrieb um 860 einen Nachtrag (suppletio) und eine gereimte Fassung (Carmen de Sancto Amando) der Heiligenvita, alles lateinische Handschriften, die in mehreren Abschriften des 11. und 12. Jahrhunderts überliefert sind. Einige wurden mit Illuminationen ausgestattet, die ihrer künstlerischen Qualität wegen zum christlich-abendländischen Kunstkanon gezählt werden. Bis zur Französischen Revolution gehörten sie zum wertvollsten Bestand der Klosterbibliothek von St. Amand. Heute befinden sie sich in der öffentlichen Bibliothek des Nachbarortes Valenciennes, wo sie nach der Französischen Revolution ”Asyl” fanden.9


Die für unseren Anlass wesentliche Frage, wie die Beziehung des hl. Amandus zu Herongen entstand, ist nicht lückenlos zu beantworten. Die Heronger Lokaltradition, der Heilige habe selbst vor Ort das Wort Gottes gepredigt, kann historisch nicht belegt werden. Sowohl in den Heiligenviten als auch in allen anderen Quellen finden sich keine Belege für eine Missionstätigkeit des Klostergründers und Bischofs soweit im Osten seines flandrischen Hauptaktionsgebietes. Wenn daher Amandus‘ Missionsreise in dem Raum zwischen Maas und Rhein nicht viel Wahrscheinlichkeit beanspruchen kann, mit Ausschließlichkeitscharakter lässt sich dieses Postulat nicht vertreten. Wenn ich nämlich von einem Sachverhalt keine Kenntnis habe, gilt nicht zwangsläufig, dass der Sachverhalt unexistent ist. Wie dem auch immer sei, wenn Amandus in Herongen gewesen wäre, dann hätte ihn vermutlich, - soviel dürfte sicher sein- die Römerstraße nach Osten gelockt.


Kehren wir nun auf den Pfad der Quellenbetrachtung zurück, dann drängt sich uns mit Macht die Urkunde auf, die Karl III am 17. März 89910 in der Krönungsstadt Reims ausstellte. Ihre Kernaussage ist die Bestätigung des Fernbesitzes des Klosters St. Amand durch den ausstellenden französischen König. Im Rhein-Maasländischen Raum sind einige Besitztitel aufgezählt wie Escreda, Merulas und Campos, wovon als ziemlich sicher nur Esserden bei Rees für Escreda indentifiziert ist.11 Auch den Herongen betreffenden Passus in pago moila villa heringa haben die Historiker unterschiedlich interpretiert. Während der Herausgeber der Urkunden Karls III Lot-Lauer in der villa heringa das westflandrische Haringhe ausgemacht hat, halten die rheinischen Historiker Herongen für zutreffend.12 Denn die Urkunde Papst Paschalis vom 24. Mai 1107, ebenfalls den Fernbesitz des Klosters St.Amand aufführend, ist in ihrer Umschreibung super fluvium Mosam villam haryngas ausreichend konkret, um mit der villa Harynga ”hinter dem Fluß Maas” nur Herongen meinen zu können.13

 

Da die letzte Urkunde überdies erstmals eine ecclesia (Kirche) für Herongen nennt, ergibt sich daraus, quasi als Nebenergebnis, dass es sich bei ”Herongen um die älteste kirchliche Niederlassung im Land Krickenbeck”14 handelt, dem späteren Amt Kirckenbeck des Oberquartiers Geldern. Es ist also älter als Hinsbeck, Grefrath, Lobberich oder Venlo beispielsweise. Ergänzt wird die Annahme dieses hohen Alters von der Spracharchäologie, der der Namen Herongen selbst wichtiger Beleg ist. Die Namen mit dem ”-ing”-Suffix gelten als älteste Namen unseres Siedlungsraumes, älter z. B. als die häufiger vorkommenden ”-heim”-Namen wie Wankum oder Issum, so daß W. Janssen Herongen als einzige vorkarolingische Siedlung des Gebietes ansieht.15


Die Frage, warum Herongen dann nicht auch der ”Vorort” des Landes Krickenbeck im Mittelalter wurde, sondern von Orten wie Venlo, Grefrath, Lobberich oder auch Hinsbeck überflügelt wurde, hat die Historiker intensiv beschäftigt, eine plausible Erklärung dafür können sie allerdings nicht anbieten.
Wohl in erster Linie aufgrund der dürftigen Quellenüberlieferung lässt sich als frühester Beleg einer Verehrung des hl. Amandus in Herongen das Jahr 1500 angeben. Diese erste Erwähnung des Amandus-Patrozinismus findet sich im Visitationsprotokoll des Xantener Archidiakons.16 Mit Sicherheit hat aber der Amanduskult in Herongen einen wichtigen Antrieb durch die ”Legenda aurea”-Sammlung des eingangs erwähnten Paters Jakobus a Voragine erlebt, da er auch den hl. Amandus hierin aufgenommen hatte. Diese zwischen 1265 und 1288 zusammengestellten Legenden ”genossen als Erbauungsbuch ungeheure Popularität”17 und haben ein ”wahrhaft goldenes Licht in manchen grauen oder schwarzen Alltag scheinen lassen”, wie H.P. Neuheuser diagnostiziert.18


Es lässt sich also resümieren, dass die Amandusverehrung keinesfalls zufällig in Herongen heimisch wurde, auch wenn wenig Wahrscheinlichkeit für eine Missionstätigkeit des Heiligen in Herongen spricht. Verklammert ist Amandus mit Herongen durch die Zugehörigkeit der villa heringa zum Kloster St. Amand, die in der Urkunde von 899 plötzlich aus dem Dunkeln der Geschichte auftaucht und im Laufe der Zeit eine solche Bindungskraft entwickelte, dass sich eine dauerhafte Amandusverehrung herauskristallisierte, so dauerhaft, dass sie weit über das Erlöschen der Bindung Herongens an das Kloster St. Amand im 11./12. Jhdt. hinaus Kraft hatte und heute noch hat. Einer Gestalt wie Amandus jedenfalls wird nur gerecht, wer akzeptiert, dass man ihr auf zwei Ebenen begegnet: der der historischen Wirklichkeit und der des Heilsgeschehens, wie es sich in der Legende präsentiert.


 Anmerkungen:  

1 Walter NIGG: Glanz der Legende, Zürich 1964, S. 9
 2 Lexikon für Theologie und Kirche [Hrsg. Michael Buchberger],
    Bd. 5, Freiburg 1933, S. 265
 3 Edouard de MOREAU: Saint Amand, apotre de la Belgique et du
    Nord de la France, Löwen 1927, S. 318
 4 wie Anm. 2, Bd. 1, Freiburg 1930, Stichwort Acharius und Aman-
    dus.
 5 Lexikon des Mittelalters, Bd. 1, München 1951, S. 510/11
 6 wie Anm. 3, S. 115 ff
 7 Gregor HÖVELMANN: Zur Landesgeschichte am unteren Nie-
    derrhein. Gesammelte Beiträge (Veröff. d. Historischen Vereins für
     Geldern und Umgegend 88), Geldern 1987, S. 197
 8 das folgende wie Anm. 3 S. 1-68
 9 Für Auskünfte und die Reproduktion der Buchillumination aus den
    Handschriften 500, 501 und 502 der Bibliothéque Munnicipale de
    Valenciennes bedanke ich mich herzlich bei Monsieur Francois
     Leclerq
10 Die Urkunde ist ediert von LOT-LAUER in: Recueil des actes de
     Charles III le Simple, roi de France (893-923), Paris 1940-49,
     mit der Nr. XVIII, S. 29-33
11 wie Anm. 7
12 ebd.
13 Wilhelm JANSSEN: Grefrath, Geschichte einer geldrischen Ge-
      meinde bis 1650, Kempen 1968, S. 6, Anm. 12
14 ebd.
15 ebd.
16 F.W. OEDIGER: Die Kirchen des Archivdiakonats Xanten (Die
     Erzdiözese Köln um 1300, zweites Heft) Bonn 1969, S. 170
17 wie Anm. 2
18 Hans-Peter NEUHEUSER: Die heilige Katharina am Niederrhein.
     In: Issumer Katharinen-Bruderschaft 575 Jahr, Geldern 1981
     S. 7-29, hier S. 8